„Zukunftsfähigkeit gestalten“ Auf dem Weg zu einem Nachhaltigkeitskodex für die Soziokultur

Christian Müller-Espey (2019: 306) betont in seiner Dissertationsschrift „Zukunftsfähigkeit gestalten“, dass eine Weiterentwicklung soziokultureller Zentren hin zu einer zukunftsfähigen Betriebsführung einen klaren Handlungsrahmen, bestehend aus aussagekräftigen Kriterien und Indikatoren, erfordert. In seiner Studie stellt er fest, dass in der soziokulturellen Szene bisher kaum zentrumsübergreifenden Kriterien und Qualitätsmerkmale existieren. Er verweist auf die Möglichkeit der Übertragung bestehender und bewährter Systeme auf die spezifischen Anforderungen soziokultureller Zentren. Branchenspezifische Anpassungen müssen in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit Akteuren der Szene vorgenommen werden (Müller-Espey, 2019: 306-307).

Anschlussfähigkeit durch den Deutschen Nachhaltigkeitskodex

Ein Schwerpunkt des Forschungsprojektes „Nachhaltigkeitskulturen entwickeln: Praxis und Perspektiven soziokultureller Zentren“ des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim in Kooperation mit dem Bundesverband Soziokultur e.V. und gefördert vom Fonds Nachhaltigkeitskultur ist die Entwicklung von Indikatoren einer zukunftsfähigen Soziokultur. Bei der Kriterien- und Indikatorenentwicklung baut das Projekt auf die Grundlagen des Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) auf, ein Instrument zur Nachhaltigkeitsberichterstattung für die Wirtschaft (Rat für Nachhaltige Entwicklung, 2020). Die Orientierung am DNK erlaubt nationale und internationale Anschlussfähigkeit, strukturierte Dokumentation sowie die Möglichkeit sich gegenüber Anspruchsgruppen zu positionieren. Die Gewährleistung der Anschlussfähigkeit für möglichst alle Zentren betrachtet Müller -Espey (2019: 307) auch als wesentliche Aufgabe auf Verbandsebene.

Jedoch richtet sich der DNK vor allem an von der CSR-Berichtspflicht betroffene Unternehmen. Dazu zählen kapitalmarktorientierte Unternehmen, Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsinstitute und Versicherungsunternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten. Auch klein- und mittelständische Unternehmen sind davon betroffen, wenn sie Teil der Lieferkette berichtspflichtiger Unternehmen sind. Mit branchenspezifischen Leitfäden wird die Anwendung des DNK in verschiedenen Branchen vereinfacht. Müller-Espey (2019:60) rät von einer Anwendung des DNK für soziokulturelle Einrichtungen in seiner bestehenden Form ab: Zwar können einige Einrichtungen als klein- und mittelständische Unternehmen (KMU) bezeichnet werden, jedoch unterscheiden sie sich als gemeinwohl- und nicht gewinnorientierte Organisationen in der Finanzfrage deutlich voneinander. Auch Wolfgang Schneider (2020) betont, dass „Soziokulturelle Zentren (…) in erster Linie keine Wirtschaftsbetriebe [sind], auch wenn sie ein Großteil ihrer Einnahmen selbst akquirieren müssen.“.

Auf dem Weg zu einem Nachhaltigkeitskodex für die Soziokultur

In seiner Dissertation skizziert Müller-Espey (2019: 308ff) mit dem Grundgerüst Z 21 einen ersten Auswahlkatalog möglicher Indikatoren und Messgrößen und empfiehlt: „Aus der Fülle der Optionen sollten nun in einem nächsten Schritt gemeinsam […] mit Akteuren der Szene die passenden Kriterien zur Zukunfts­fähigkeit soziokultureller Zentren aus dem DNK-Katalog ausgewählt und ggf. um branchenspezifische Kriterien ergänzt werden.“ (Müller-Espey 2019a: 313)

Im Frühjahr 2018 fand ein Expertenworkshop mit Vertreter*innen des Bundesverbandes, von Landesverbänden, von Mitgliedseinrichtungen und Wissenschaftler*innen statt. In diesem Rahmen wurden die Kriterien des DNK diskutiert und die vier Wirkungsfelder des DNK (Strategie, Prozesse, Umwelt, Gesellschaft), um die Wirkungsfelder Politik und Finanzen erweitert sowie erste branchenspezifische Indikatoren erarbeitet.

In Anlehnung an die Ergebnisse aus dem Expertenworkshop wurde der Statistikbericht des Bundesverbandes Soziokultur e.V. um das Kapitel „Zukunftsfähigkeit“ erweitert. Der Verband erhebt seit 1992 Daten zur Situation und Perspektiven der Mitgliedseinrichtungen und -initiativen, um daraus Handlungsoptionen zu identifizieren und Forderungen gegenüber Kommunen, Ländern und Bund zu formulieren. Im Kapitel „Zukunftsfähigkeit“ wurden in 2018 im Rahmen der bundesweiten statistischen Erhebung Fragen zu den sechs Wirkungsfeldern erfasst. Die Ergebnissen wurden im Statistikbericht 2019 veröffentlicht und im Beitrag von Dr. Christian Müller-Espey „Was es braucht, um soziokulturelle Zentren zukunftsfähiger zu machen“ erläutert.

In 2019 wurde der DNK in Anlehnung an die Betaversion des Hochschul-DNK, ergänzt um erste branchenspezifische und praxisorientierte Beispiele, mit fünf soziokulturellen Einrichtungen getestet1. Basierend auf den Erfahrungen aus der Praxis erfolgte eine Anpassung der Kriterien sowie der Kurzbeschreibungen und eine Ausrichtung in der Ansprache auf Kulturbetriebe. Der erste Entwurf eines branchenspezifischen Nachhaltigkeitskodex wurde beim Salongespräch in Darmstadt in Kooperation mit der Schader-Stiftung im September 2019 vorgestellt und diskutiert.

Besonderheiten soziokultureller Einrichtungen berücksichtigen

Die Praxisimpulse machen deutlich, dass ein branchenspezifischer Nachhaltigkeitskodex dabei helfen könnte, die zukunftsfähige Entwicklung soziokultureller Einrichtungen systematisch, strategisch sowie institutionell voranzutreiben, so die Überlegungen aus dem Salongespräch in Darmstadt. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex scheint dafür jedoch ungeeignet, da die Einrichtungen Besonderheiten aufweisen, die in einem eigenen branchenspezifischen Kodex besser berücksichtigt werden können. Dazu zählen, wie bereits oben erwähnt, einerseits Aspekte wie finanzielle Nachhaltigkeit und politisch-strategische Netzwerkarbeit sowie weitere gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie z.B. die zunehmende Digitalisierung. Andererseits sind die Einrichtungen von Kriterien, wie z.B. die Tiefe der Lieferkette und Menschenrechte entlang der Lieferkette, weniger direkt betroffen als global ausgerichtete und produzierende Unternehmen.

Schließlich sind soziokulturelle Einrichtungen „aus ihrer Geschichte heraus (…) vor allem Impulsgeber für Initiativen, die offensichtlich gefehlt haben, sie sind nach wie vor Seismografen für Fehlentwicklungen (…) (Schneider, 2020). Mit ihrer Arbeit folgen soziokulturelle Einrichtungen damit einem gesellschaftlichen Auftrag, der laut Wimmer (2019: 34) zeitgemäßer und klar vermittelbarer statuiert werden sowie einer stärkeren Auseinandersetzung mit Widersprüchen folgen müsste. Diese Forderung bietet die Chance die soziokulturelle Arbeit auch klarer im Sinne „einer global gerechten Welt, die die Lebenschancen aller Menschen im Blick behält“ (Schneidewind, 2019) zu positionieren und in Bezug zu nationalen oder internationalen Nachhaltigkeitszielen zu setzen.

Darüber hinaus müssen die meisten soziokulturellen Zentren Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung mit einem so geringen finanziellen und personellen Aufwand wie möglich umsetzen können (vgl. Salongespräch Darmstadt, 2019). Der Kodex kann daher nicht nur vor dem Hintergrund der Berichterstattung angewendet werden, sondern zugleich eine Struktur für die Auseinandersetzung mit dem Prozess der Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung in den einzelnen Einrichtungen vorlegen. Ergänzende branchenspezifische Leistungsindikatoren erlauben es, die eigene Entwicklung besser einordnen zu können (vgl. Salongespräch Darmstadt, 2019; Müller, 2020). Beispielmaßnahmen sollen Möglichkeiten zur schrittweisen Umsetzung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen aufzeigen.

Unter Einbezug der Erkenntnisse aus der Prozessentwicklung2, als ein Handlungsfeld des Forschungsprojektes, der Zusammenführung der Wirkungsfelder und Indikatoren aus dem Statistikbericht des Bundesverbandes und der Dissertationsschrift von Müller-Espey (2019) sowie aus jüngsten Erkenntnissen der digitalen Workshopreihe3 erfolgte im Jahr 2020 die Weiterentwicklung eines entsprechenden Branchenkodex. Das beinhaltet v.a. die Konkretisierung der Wirkungsfelder und  branchenspezifischen Kriterien sowie die Reihenfolge, die v.a. den Einstieg in das Thema Nachhaltigkeit erleichtern soll. Darüber hinaus wurden die im Statistikbericht sowie im Grundgerüst Z21 aufgeführten Indikatoren zusammengeführt, mit existierenden Leitfäden für ähnliche Branchen abgeglichen4 und insbesondere beim Wirkungsfeld „Klimaneutrales Verhalten“ um Indikatoren in Anlehnung an das Gemeinschaftssystem für  Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung (EMAS) erweitert (BMU, 2013). Weitere Ergänzungen werden bis zum Projektende vorgenommen, insbesondere die Ergänzung von Beispielen auf Bundesebene und aus einzelnen soziokulturellen Einrichtungen sowie weiterführende fachspezifische Informationen, um die Anwendbarkeit zu vereinfachen.

Dabei sei festzuhalten, dass bei der Entstehung des Kodex von einem stetigen, nie abgeschlossenen Prozess auszugehen ist (vgl. Salongespräch Darmstadt, 2019). Nach Abschluss des Forschungsprojektes ist daher eine Phase der Erprobung erforderlich, mit der zugleich weitere Prozesse im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung in den Einrichtungen angeregt und der so dringend benötigte kulturelle Wandel vorangetrieben werden kann.

Damit sollte auch die Debatte weiter angestoßen werden, ob ein branchenspezifischer Nachhaltigkeitskodex als Steuerungselement kulturpolitischer Forderungen eingesetzt werden kann (vgl. Salongespräch Darmstadt, 2019). Auch eine mögliche Verpflichtung sollte diskutiert werden. Denn laut Müller-Espey (2019: 313) kann eine Kopplung öffentlicher Förderung an den Nachweis nachhaltiger Kennzahlen – wie beispielsweise in England – das Vorhaben nachhaltiger Betriebsamkeit unterstützen. Die finanzielle Förderung im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung, sollte bei den Förderern im Fokus stehen. Dafür ist Vermittlungsarbeit zwischen Förderern und Zentren nötig, sowie die Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Kultur. Es bedarf Korrekturen in der Kulturförderung, die Aspekte der Nachhaltigkeit nicht zur Funktionalisierung von Kulturarbeit degradieren, sondern sie als existentielle Themen in den Fokus nehmen und dafür Rahmenbedingungen entwickeln (vgl. Schneider, 2020). Die nachhaltige Entwicklung in soziokulturellen Einrichtungen in vollem Gange ist, nötig dafür ist letztlich eine gezielte Förderung, plädiert Patrick Adamscheck (2020). Und Uwe Schneidewind (2019), „dass es beim Projekt „Nachhaltige Entwicklung“ um eine Epochenherausforderung geht, die immer von ihrem kulturellen Anfang her gedacht werden muss. Nur dort wird es dann gelingen, die entsprechenden Institutionen und Politiken zu schaffen, in deren Rahmen sich die ökonomischen und technologischen Möglichkeiten im Sinne einer „Nachhaltigen Entwicklung“ entfalten.“

Grundgerüst eines Nachhaltigkeitskodex in der Soziokultur

 

Quellen:

Adamscheck, Patrick (2020): Nachhaltige Kulturarbeit. Jetzt in Zukunft: eine Zwischenbilanz. In: infodienst – Das Magazin für kulturelle Bildung, Nr. 135, S. 24-25.

BMAS (2020): Neue CSR-Berichtspflicht für Unternehmen ab 2017. Online verfügbar unter https://www.csr-in-deutschland.de/DE/Politik/CSR-national/Aktivitaeten-der-Bundesregierung/CSR-Berichtspflichten/richtlinie-zur-berichterstattung.html, zuletzt geprüft am 14.07.2020.

BMU (2013): Umweltkennzahlen in der Praxis. Ein Leitfaden zur Anwendung von Umweltkennzahlen in Umweltmanagementsysteme mit dem Schwerpunkt auf EMAS. Online verfügbar unter https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/publikationen/umweltkennzahlen_in_der_praxis_leitfaden_barrierefrei.pdf, zuletzt geprüft am 14.07.2020.

Müller-Espey, Christian (2019a): Zukunftsfähigkeit gestalten. Bern, Schweiz: Peter Lang D.

Müller, Ria (2020): Überlegungen zu einem Nachhaltigkeitskodex für die Soziokultur. Präsentation im Rahmen der 3. Fachbeiratssitzung am 26.02.2020 in Hildesheim.

Salongespräch Darmstadt (2019): Ein branchenspezifischer Nachhaltigkeitskodex für kleine und mittlere Kulturbetriebe. Protokoll des Salongesprächs in Darmstadt vom 19.09.2019 im Rahmen des Forschungsprojektes.

Schneider, Wolfgang (2020): Jetzt in Zukunft? Nachhaltigkeitskultur als Forschungsgegenstand. In: Politik & Kultur Nr. 5/20.

Schneidewind, Uwe (2019): Ein gutes Leben für alle Menschen ermöglichen – die kulturelle Dimension des Klimawandels. In: Politik & Kultur Nr. 10/2019.

Rat für Nachhaltige Entwicklung (2020): Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex. Maßstab für nachhaltiges Wirtschaften. Online verfügbar unter https://www.deutscher-nachhaltigkeitskodex.de/de-DE/Documents/PDFs/Sustainability-Code/RNE_DNK_BroschuereA5_2020.aspx, zuletzt geprüft am 14.07.2020.

Wimmer, Michael (2019): Soziokultur im gesellschaftlichen und kulturpolitischen Wandel, in: Blumenreich et. al. (2019): Neue Methoden und Formate der soziokulturellen Projektarbeit. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., Bonn.

 

 


1. Vier Karlsruher Kulturbetriebe und Centralstation Darmstadt.

2. Projekt „Selbstversuch: Klimaneutrale Veranstaltungen in der soziokulturellen Praxis“ des Vereins 2N2K e.V., SozioK-Change-Programm der Stiftung Niedersachsen sowie Karlsruher Kulturbetriebe.

3. Projekt „Selbstversuch: Klimaneutrale Veranstaltungen in der soziokulturellen Praxis“ des Vereins 2N2K e.V., SozioK-Change-Programm der Stiftung Niedersachsen sowie Karlsruher Kulturbetriebe.

4. Insbesondere ÜBER LEBENSKUNST, Green Guide Malzfabrik Berlin, Klimaneutrale Veranstaltungen EnergieAgentur NRW, Nachhaltige Organisation des Bundesumweltministeriums, Green Events Hamburg.

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